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Berenice Boxler: Angst essen Seele auf

Nein, mit dem gleichnamigen Film von Rainer Werner Fassbinder aus den 1970er Jahren hat dieser Artikel nichts zu tun. Aber die Überschrift beschreibt gut, was gerade vielerorts zu beobachten ist. Die Angst geht um. Und ein ängstliches Gehirn ist kein gut arbeitendes Gehirn. Aus dem Bedrohungs- und Alarmsystem heraus werden Entscheidungen getroffen, die oft instinktiv und  unüberlegt sind. Und ja, es ist schwer, nicht zu urteilen. Wer weiß schon, was heute richtig und was falsch ist?

Zum Zeitpunkt des Schreibens (am 8. März 2020) sind in Luxemburg vier Corona-Virus-Fälle bestätigt, importiert aus dem Ausland. Auch haben schon einige Menschen mit vorsorglicher Quarantäne leben müssen. Sicherlich werden die Zahlen nach oben gehen, irgendwann wird es wohl Berichte über eine Inlands-Ansteckung geben. Im Internet gibt es Fotos von leergeräumten Supermarktregalen, Berichte von ausverkauften Desinfektionsgels und reihenweise Absagen von Groß- und auch kleineren Veranstaltungen. Jedes Land hat da so seine eigene magische Zahlengrenze. In sozialen Medien schaukeln sich die Menschen gegenseitig hoch, es wird gewarnt, Experten zitiert und Prognosen gestellt. Auf der anderen Seite war da eine Geburtstagsparty mit Küsschen, ein Chorkonzert und Playdates. Was ist richtig, was ist falsch? Wann schlägt Vorsicht in übertriebene Sorge oder gar Panik um?

 

Die drei emotionalen Systeme des Menschen
Paul Gilbert hat das System der drei emotionalen Regulierungssysteme des Gehirns erstellt: das Bedrohungs- oder Alarmsystem, das Motivierungssystem und das Verbundenheitssystem. Das Motivierungssystem ist aktiv, wenn wir etwas wollen und eine innere Unruhe und Rastlosigkeit verspüren. Dank dieses Antriebs nach „mehr“ und „haben wollen“ bewerben wir uns für einen spannenden Job, greifen wir voller Appetit nach Schokolade, haben das Handy meist ständig in Reichweite oder freuen uns wie ein Kind auf neue Möbel, die bald geliefert werden sollen. Wenn wir dann bekommen, was wir wollen, schüttet unser Körper das Glückshormon Dopamin aus. Das ist auch der Grund, weshalb Erwachsene und Kinder heutzutage ohne Smartphones kaum mehr sein können: jedes Ping, jede Mail und jede Nachricht erzeugt eine Dopamin-Ausschüttung. Und das macht abhängig. Ein ständiger Kreislauf von Verlangen/Haben-Wollen – Bekommen – Hochgefühl, den wir nur unterbrechen können, wenn wir das Verlangen (und damit die Gewohnheit) bemerken und bewusst nicht bedienen.

Das Verbundenheitssystem ist am Steuer, wenn wir Empathie, Vertrauen und Zuneigung empfinden, wenn wir uns verbunden fühlen mit anderen Menschen, Tieren oder der Natur und wenn in uns eine tiefe innere Ruhe und ein Gefühl von Zufriedenheit und Fürsorge für sich und für andere wirken. Dieses System ist das heilsamste und das, in welchem wir anderen Menschen nahe kommen können und uns für ihre Freuden und für ihr Leiden öffnen können. Es geht hier um Präsenz, um Verbindung und um echtes Interesse am anderen.

Alarmsystem aktiviert
Gegenwärtig ist vor allem das Alarmsystem aktiv. Es ist gekennzeichnet durch eine Art Tunnelblick, ein Handeln im Kampf-, Flucht- oder Erstarrungs-Modus, voller Stress und Adrenalin, schnelle Schuldzuweisungen und ein emsiges Suchen nach einer Lösung. Vielerorts ist dieses System nun in Aktion zu beobachten. Da gibt es Sätze wie: „X und Y waren dort am Wochenende. Dann wissen wir ja, woher wir das haben, wenn wir uns anstecken.“ und „Wir machen keine Hamsterkäufe, aber wenn es im Supermarkt bald vielleicht nichts mehr gibt, dann muss man ja auch kaufen, man weiß ja nie…“ Und ja, es ist nicht klar, wie viel hier zu viel ist. Forschung und Erfahrung zeigen aber deutlich, dass ein Alarmsystem kein guter Ratgeber ist, wenn es um vernünftige und weitsichtige Entscheidungen geht, um eine nachhaltige Lösung, statt eines Quick-Fix, um die Nerven zu beruhigen. Instinktive Kampf- oder Fluchtreaktionen haben ihre Daseinsberechtigung, z.B. wenn plötzlich der Vordermann auf die Bremse tritt und man instinktiv ausweicht. Oder wenn Flammen lodern und man greift nach dem Feuerlöscher oder bringt sich schnell in Sicherheit.

Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker
Das menschliche Gehirn ist so aufgebaut, dass wir ständig auf der Hut sind: die Grundeinstellung ist auf „überleben“ eingestellt. Es ist also nur allzu menschlich, dass das Alarmsystem gegenwärtig ständig neu aktiviert und verstärkt wird. Die täglichen Berichte und die globale Vernetzung durch soziale Medien sorgen zuverlässig dafür, dass es immer neue beunruhigende Nachrichten gibt. Unsere im Gehirn eingebaute Negativitätstendenz (die vorrangig das tatsächliche oder potentielle Problem wahrnimmt) wird gegenwärtig gefüttert und gemästet und nimmt allen Platz ein, so dass für anderes oft kaum noch Raum ist. Und je öfter das Alarmsystem bedient wird, desto stärker wird es. Denn: „Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker.“ In diesem Tunnelblick wird nur das Problem, die Bedrohung – aktuell der Virus – gesehen und das Gehirn sucht emsig nach einer Lösung. Und hier ist die Schwierigkeit: da es etwas Neues ist und keine direkte oder eindeutige Lösung zur Hand ist, verstrickt sich das Gehirn im Tun. Hamsterkäufe, sich austauschen, Aktionismus (z.B. kein Händeschütteln mehr und andere, sicherlich auch sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen), Verabredungen absagen, kreisende Gedanken. All das suggeriert dem alarmierten Gehirn den Anschein von Kontrolle, die es aber nicht gibt. Das Leben ist nicht zu kontrollieren, und so etwas Unsichtbares wie ein Virus schon gar nicht. Aber da wir Menschen so auf Tun und Lösen und Klären gepolt sind, ist das oft die einzige Möglichkeit, die wir haben. Das wird dann ganz schnell zu einem Dominoeffekt, der sich selbst verstärkt, weil bei jedem neuen Bericht wieder klar wird, dass man eigentlich keine Kontrolle hat. Und dann fängt man wieder an zu handeln, um dieses unangenehme Gefühl der Bodenlosigkeit und Unsicherheit nicht fühlen zu müssen.

Um es deutlich zu sagen: Es geht nicht um eine Bewertung der Maßnahmen von Autoritäten. Es geht vielmehr darum zu verstehen, wie das menschliche Gehirn funktioniert und weshalb ein Mensch tut, was er tut, wenn er von etwas oder jemandem herausgefordert wird.

Angst essen Seele auf
Die irrationale Reaktion im Alarmsystem ist sehr menschlich, aber nicht hilfreich. Die Gefahr eines daraus entstehenden Dominoeffekts kann kurz- und langfristig sehr problematisch werden für den Alltag, für die Wirtschaft und ganz besonders für die Menschlichkeit selbst. Denn wenn das Alarmsystem aktiv ist, ist das Verbundenheitssystem abgeschaltet. Wenn es ums Überleben geht, dann weichen Besonnenheit und Empathie oft einem „ich zuerst“, und statt Solidarität geht es um Schuldzuweisungen. Es gibt mittlerweile viele Geschichten von Menschen, die ausgegrenzt oder diffamiert werden, entweder weil sie den Virus haben (und damit potentiell andere angesteckt haben) oder weil sie von Menschen im Alarmsystem aufgrund ihrer Herkunft als mögliche Träger wahrgenommen werden und zum Beispiel eines Fußballstadiums verwiesen werden. Wo Angst regiert, ist für die Seele kein Platz. Im Alarmsystem ist sich jeder selbst der nächste, und es fühlt sich nach Kontrolle und Macht an, wenn man die Verantwortung einem vermeintlich Schuldigen zuschieben kann.

Sich daran erinnern, ein Mensch zu sein
Das Alarmsystem ist ein Relikt aus der Vorzeit, in der die Vorfahren der Menschen vor Säbelzahntigern fliehen und jeder möglichen Gefahr mit Flucht oder Kampf begegnen mussten. Der Teil des Gehirns, der dafür zuständig ist, wird auch das Reptiliengehirn genannt. Dieses System hat der Spezies Mensch das Überleben gesichert. Wir sind aber keine Reptilien, wir sind Menschen. Das menschliche Gehirn ist so viel größer und weiter entwickelt und hat so viele wunderbare Dinge hervorgebracht. Wir sind mehr als Kampf oder Flucht oder Erstarren in Panik. Die Wahrheit ist: Keiner ist schuld. Das Leben passiert einfach. Neue Krankheiten tauchen auf, Wirbelstürme toben, Unfälle passieren. Das Leben ist voller Schwierigkeiten, ob unsichtbar (wie ein Virus) oder sichtbar (wie ein schlimmer Autounfall). Das Wichtigste des menschlichen Lebens ist es, ein Mensch zu sein – ganz besonders in der Schwierigkeit. Es geht um wache Sorgfalt, um den eigenen Beitrag wie z.B. gründliches Händewaschen oder als Verdachtsfall zunächst zu telefonieren anstatt zum Arzt zu gehen. Es geht aber im Kern auch um Mitgefühl, um Freundlichkeit, um Menschlichkeit, um ein Miteinander in der Schwierigkeit. Und es geht auch darum, mit dem vernünftigen Teil des menschlichen Gehirns zu erkennen, wenn das Alarmsystem wieder aktiviert wird und für einen Moment alles wieder aus der Bahn zu werfen droht.

Die Aufgabe besteht also darin, sich immer wieder daran zu erinnern, dass man ein Mensch ist. Kodo Sawaki, ein japanischer Zen-Meister, sagt: „Ein spirituelles Leben zu führen bedeutet, eine aufrechte Haltung zu bewahren, selbst dann, wenn keiner zuschaut.“ Das könnte man umformulieren in „Ein Mensch zu sein bedeutet, die eigene Menschlichkeit und die Verbundenheit mit den anderen Menschen zu bewahren, selbst dann, wenn das Leben und die gegenwärtigen Umstände immer wieder die primitiven Überlebensinstinkte in uns hervorrufen.“ Alles darf da sein, die Unsicherheit, die Angst, die vielen Gedanken, der angespannte Körper, der mitreißende Strom der anderen Menschen, die Handlungsimpulse. Ob wir diese Erfahrungen ans Steuer lassen und uns davon antreiben lassen oder immer wieder erkennen, dass wir die Wahl haben, wie wir das Leben gerade jetzt leben – das ist es, worauf es ankommt. Es gibt kein richtig oder falsch. Es gibt nur ein Erkennen dessen, was einen gerade antreibt – und eine bewusste Entscheidung, aus welcher Verfassung heraus man handeln möchte, was also der innere Kompass sein soll.

Berenice Boxler ist Achtsamkeitslehrerin mit Schwerpunkten in Achtsamkeit im Leben mit und in der Erziehung von Kindern, Achtsamkeit für Kinder und Jugendliche und Achtsame Kommunikation. Berufliche und private Stationen brachten sie von Deutschland nach Großbritannien, Belgien und nun Luxemburg, wo sie u.a. Kurse, Workshops und ein- oder mehrtägige Auszeiten anbietet.  

Ausführliche Informationen zu Berenice Boxler und ihrer Arbeit finden Sie auf der Website: www.being-mindful.lu

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