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Die Herausforderungen des MBSR-Lehrer-Daseins
Die Praxis und das Leben selbst dienen als Lehrer

Achtsamkeit ist nicht einfach nur eine neue Methode oder Technik, mit anderen bekannten Techniken und Strategien vergleichbar, die wir in dem einen oder anderen Bereich vielleicht hilfreich finden. Es ist eine Weise des Seins, des Sehens, des Einlassens auf die vielen Dimensionen unseres Menschseins und deshalb liegt darin eine entscheidend wichtige Essenz, die nicht durch Techniken vermittelbar ist. Eine wichtige Herausforderung als MBSR-Lehrer*in besteht darin, die höchsten Ebenen der Meisterschaft und Integrität zu erreichen, die notwendig sind, damit beim Lehren von Achtsamkeit eine tiefe Authentizität und Glaubwürdigkeit vermittelt wird.

Eine andere Herausforderungen besteht darin, die eigene Motivation zu untersuchen, mit der wir uns auf solch einen ungewöhnlichen Weg begeben. Motivation ist ein andauernder und entscheidend wichtiger Faktor beim Lehren von Achtsamkeit, und, was noch wichtiger ist, um die eigene Praxis kontinuierlich zu üben und zu vertiefen. Sie erfordert eine ständige Untersuchung und Reflexion, weil die Motivation wachsen und sich verändern kann und mit der Zeit und mit zunehmender Erfahrung immer reifer werden kann.

 

Eine lebenslange Aufgabe

Ich persönlich halte es für absolut notwendig von Zeit zu Zeit an längeren Meditationsretreats teilzunehmen, die von einem Lehrer/einer Lehrerin geleitet werden, um die eigene Meditationspraxis, das eigene Verständnis und die Effektivität als Lehrende weiter zu entwicklen. Aber selbst wenn wir erkennen, dass längere Meditationsretreats notwendig sind, so sind sie doch nicht ausreichend. Achtsamkeit im Alltag ist die ultimative Herausforderung und Praxis.

Die Praxis der Achtsamkeit ist eine lebenslange Aufgabe. Wachstum, Entwicklung und Reife als Übender und Lehrernde von Achtsamkeit sind ein entscheidender Teil des Prozesses. Und das geschieht nicht immer ohne Schmerzen. Selbsterkenntnis kann sehr ernüchternd sein, deshalb muss im Laufe des Prozesses auch die Motivation reifen, damit wir ständig weiter üben und uns mit dem auseinanderzusetzen, was innerlich auftaucht.

 

Genauigkeit und Innovation im Curriculum

Ein Merkmal des MBSR-Curriculums, auf das die Autoren besonders hinweisen, ist das, was sie als „Integrität“ bezeichnen. Was MBSR selbst betrifft – und andere Ansätze, die sich daran orientieren – muss diese Integrität geschützt werden, besonders angesichts des unvermeidbaren Impulses neuer Lehrer*innen, das Curriculum zu verbessern oder neue „Module“ hinzuzufügen, oder es in ihren bisherigen pädagogischen Ansatz zu integrieren, um das Programm zu bereichern und ihren Bedürfnissen anzupassen. Das sind verständliche und in manchen Fällen hilfreiche kreative Impulse. Und in manchen Fällen funktionierten sie auch und funktionieren sogar gut und sind ein notwendiges Element, damit Sie sich die Lehrtätigkeit selbst aneignen können.

Weil wir über Achtsamkeit sprechen, besteht die Grundlage aber auch in innerer Stille, Weite und Grenzenlosigkeit. Aus diesem Grund müssen wir aufmerksam sein gegenüber unserem Impuls, den leeren Raum bei der Arbeit mit MBSR mit zusätzlichem „Zeug“ zu füllen, besonders wenn uns längere Zeiten der Stille unangenehm sind oder wir uns unsicher sind, ob die Teilnehmer „verstehen“, was sie nach unserer Ansicht verstehen sollten. Die Stille und „Spärlichkeit“ des Curriculums sind sinnvoll. Ohne die Stille und Weite, die über alle Konzepte hinausgehen, wäre es nur noch eine kognitive Übung und würde nicht länger die Praxis, das Herz der Achtsamkeit, berühren und entwickeln.

 

Trotz der Kernstruktur, darf das Curriculum lebendig bleiben

Viele MBSR-Lehrende haben mir im Laufe der Jahre davon erzählt, dass sie in der einen oder anderen Weise versucht haben, das Curriculum zu verändern, sie haben etwas hinzugefügt oder weggelassen, teilweise sogar die Kernübungen. Aber letztendlich kamen sie alle wieder zur Kernstruktur von MBSR zurück, weil sie festgestellt haben, dass ihre Veränderungen nicht so gut funktionierten, wie sie es sich erhofft hatten. Einer der Gründe, warum sie zum Kerncurriculum zurückkehrten, war die Entdeckung, dass sie ohne Absicht, das zu tun, die Weite und die Empfindungen von Stille und Offenheit zugedeckt haben.

Wenn wir also MBSR lehren, ist es wichtig, dass es auch wirklich MBSR ist, und wir nicht einfach das, was wir für unwesentlich halten, weglassen oder nach unserem Gefühl von Unvollständigkeit und unseren Vorlieben modifizieren, um es unter der Bezeichnung MBSR zu lehren.

Es ist wichtig, innovativ zu sein und dort, wo es angemessen ist, die Kenntnisse und Vorlieben des Lehrers zu berücksichtigen. Im MBSR-Curriculum gibt es viel Spielraum und Freiheit, damit der Lehrer oder die Lehrerin sich einbringen kann, und wo es angemessen ist, auch mit neuen Informationen und Übungen. Der kreative Spielraum ist wichtig, damit das Curriculum lebendig bleibt. Gleichzeitig gibt es aber in dem achtwöchigen MBSR-Curriculum wenig Raum, um noch mehr hineinzupacken, wie interessant oder relevant es auch sein mag, ohne etwas vielleicht noch Wichtigeres wegzulassen.

 

Seine eigene innere Logik

Meist wird noch mehr Raum und Weite benötigt, anstatt noch mehr Informationen, Methoden oder Lerneinheiten. Das Wichtige ist, dass die Struktur die Tiefe der Möglichkeit reflektiert, die Achtsamkeit dem Einzelnen sowie der ganzen Gruppe eröffnet. Für den Lehrenden kommt diese Haltung aus der vollkommenen Hingabe an die Praxis und das Vertrauen, dass die Praxis und das Leben selbst die wahren Lehrer sind.

Das achtwöchige Format und Curriculum von MBSR im klinischen Kontext hat seine eigene innere Logik, die voraussetzt, dass dieses Format berücksichtigt wird, ohne alle möglichen anderen Konzepte mit hineinzunehmen, die aus dem eigenen Interesse des Lehrenden kommen. Aber andere Formen der Achtsamkeitspädagogik in anderen Kontexten erfordern vielleicht genau diese Art von kreativer Spontaneität.

Bei der Entwicklung neuer und innovativer Achtsamkeitsprogramme für neue Einrichtungen, sei es nun die Hauptniederlassung von Google, Arbeitsorte mit hoher Stressbelastung, Gefängnisse, Innenstädte, Sportteams oder bei der Einführung von Achtsamkeit in Grund- und Hauptschulen, müssen wir immer bedenken, dass Modifikationen und Innovationen absolut notwendig sind. Gleichzeitig wollen wir die Essenz nicht verlieren. Damit das nicht geschieht, müssen wir selbst in der Essenz leben.

 

Vertrauen

Der Wunsch, einen bestimmten Effekt zu erzeugen, ist eine Falle, die, wenn wir dort hineintappen, unser Verständnis von Achtsamkeit und der Arbeit damit trübt. Zumindest in diesem Moment werden wir dann dieser Arbeit nicht gerecht, und auch nicht uns selbst und unseren Schülern. Und natürlich sind wir alle in der einen oder anderen Situation genau in diese Falle getappt und hoffentlich lernen wir von solchen Momenten auf unserem Weg, ausreichend gute Lehrer*nnen zu werden.

Aber wenn wir das Auftauchen solcher Impulse voraussehen und anerkennen können, sollten wir darauf achten, wenn sie erscheinen und der Versuchung widerstehen, den Raum zwischen unseren eigenen Gedanken, unserer Angst und zielbestimmten Ideen zu füllen. Denn allein schon diese Aufmerksamkeit selbst schafft die Voraussetzung für das letztendlich geheimnisvolle Entstehen solcher intra- und intersubjektiven Resonanzen im Feld von Stille und Gewahrsein im Raum.

Damit es auch nur die Möglichkeit zu dieser Entfaltung gibt, ist Vertrauen absolut notwendig. Vertrauen in die Praxis, Vertrauen in die Stille, in die Weite des Gewahrseins, die mit nichts gefüllt werden muss, Vertrauen in einen Augenblick, der nichts anderes hervorbringen muss und nicht beschrieben werden muss, Vertrauen in die Schönheit jedes Menschen im Raum, so wie er oder sie ist.

 

Das Leben selbst ist das Curriculum

Das ist einer der vielen Gründe, warum wir immer wieder als Kernprinzip sagen, dass es das Wichtigste ist, dass das Lehren aus der eigenen Praxis entsteht. Es gibt einfach keinen anderen Weg. Deshalb ist eine verfeinerte Wahrnehmung der eigenen Geisteszustände so wichtig, einschließlich der unvermeidlichen Impulse, die den leeren Raum füllen wollen, und sehr an vorgestellten Ergebnissen anhaften und den eigenen Zielen, der eigenen Philosophie und dem eigenen Ego entsprechen.

Und Sie, als der- oder diejenige, die diese Herausforderung annehmen, angenommen haben oder annehmen werden, werden erkennen, dass Sie selbst wahrscheinlich am meisten von Ihrer Lehrtätigkeit, Ihrer Praxis und Ihrem Studium profitieren – mehr als jeder, den sie lehren, egal wie sehr dieser Mensch davon profitiert. Und Sie werden erkennen, dass Ihre Schüler – egal wer diese sind, in welchem Kontext sie arbeiten und welche achtsamkeitsbasierte Methode sie verwenden – Ihnen mindestens genauso viel lehren, wie Sie sie lehren.

Und Sie werden schließlich erkennen, dass das Leben der allem zugrunde liegende Lehrer ist, den wir hier anerkennen sollten. Das Leben selbst ist das Curriculum, der Weg und das Ende jedes Weges – genau hier, im gegenwärtigen Augenblick, in den Umständen und in dem Kontext, für die wir uns entschieden haben, um dort hineinzugehen und darin zu wirken, wo und wie das auch immer geschehen mag.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Achtsamkeit lehren von Donald McCown, Diane Reibel und Marc S. Micozzi.

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