Ethan Nichtern

Nicht zu Hause

Die Krise des Materialismus
Ethan Nichtern: Die Krise des Materialismus

Welches Wort beschreibt am besten die Epidemie, die aus einem Leben in ständiger Bewegung erwächst? Was passiert, wenn wir uns im Streben nach Sicherheit krampfhaft an den Inhalten unseres Erlebens festklammern? Was passiert mit einer ganzen Gesellschaft, deren Mitglieder ein systemimmanentes Unbehagen erleben, wenn sie mit sich allein sind, und denen beigebracht wird, ein Leben in einer Art wohliger Betäubung sei das Beste? Welchen psychologischen Schaden richten wir bei uns selber an, wie foltern wir uns selber, und welche Katastrophen entfesseln wir in unserer Umwelt, wenn wir der Arbeit an und mit unserem Geist immer wieder aus dem Wege gehen?

 

Vom Shambhala-Standpunkt aus lautet das Wort für diese Krankheit „Materialismus“

Wenn wir jemanden „materialistisch“ nennen, meinen wir normalerweise, er oder sie habe oberflächliche oder kleinkarierte Werte, habe irrige Ansichten darüber, was im Leben wirklich wichtig ist. Mir fällt dabei immer ein Song von Madonna ein. Aber was die Tradition mit „Materialismus“ meint, ist etwas Subtileres, Metaphysischeres und Allgemeineres. Materialismus ist der Glaube, dass das Bewusstsein unwichtig ist, dass der Geist sich auf das Gehirn reduzieren lässt, und dass deshalb der Weg zum Glück etwas mit einer ganz präzisen chemischen Manipulation zu tun haben muss.

Materialisten glauben per se nicht an die Wichtigkeit des Geistes und reduzieren das Leben stattdessen auf die Suche nach Lustgewinn. Dadurch werden sie mit der Zeit in der Beziehung zu ihrem eigenen Bewusstsein immer unsicherer. Jede schlechte Entscheidung, die wir im Leben treffen, und jedes zerstörerische und gierige System, das auf diesem Planeten am Werke ist, entspringt dieser Unsicherheit, aus den Handlungen von menschlichen Wesen, die sich nicht zu Hause fühlen.

 

Irgendwo „da draußen“ nach Sicherheit haschen

Um die Theorie des Materialismus zu verstehen, müssen wir ein Grundverständnis der Subjekt-Objekt-Natur des menschlichen Erlebens haben, und davon, wie die Tradition des Wach-ismus uns anleitet, unserem eigenen Herz-Geist mutig gegenüberzutreten. Jede(r) von uns ist ein Subjekt, jemand, der existiert und im Raum einer lebendigen Bewusstheit Objekte des Erlebens wahrnimmt. Wenn ein Subjekt sich in seiner eigenen Subjektivität nicht zu Hause fühlen kann, hat es keine andere Wahl, als irgendwo „da draußen“ nach Sicherheit zu haschen und zu versuchen, daraus irgendwie ein solides Zuhause zu fabrizieren. Dieser Prozess der Objektivierung ist der Haupttreibstoff für die albtraumhafte Rush-Hour in Samsāra – eine Fahrt ins Blaue auf der Jagd nach Erlebnissen, die man dann wieder verwirft, auf der man jeden Moment auf perfekte Weise zu arrangieren versucht und alles unternimmt, um Unangenehmes zu vermeiden.

Allerdings ist es ein Grundzug der Realität, dass alles, was wir erleben, fundamental instabil ist (mit anderen Worten, unbeständig). Der Versuch, aus irgendeiner Kollektion unbeständiger Objekte ein reales und dauerhaftes Zuhause zu schaffen, wird irgendwann chronischen Stress und Unbehagen erzeugen statt dauerhafter Sicherheit und Behaglichkeit. Ob das nun ein materielles Objekt ist wie eine renovierte Küche oder ein mentales Objekt wie ein Erlebnis innerer Lustgefühle: Beides wird sich zwangsläufig verändern. Auch wenn sie uns zeitweilig vielleicht ein Gefühl der Sicherheit geben, taugt keines dieser Objekte als echtes Zuhause.

 

Eine Kultur des Konsumierens

Statt die Unbeständigkeit allen Erlebens als Hinweis zu nehmen, seinem eigenen Herz-Geist mehr Aufmerksamkeit zu widmen, fasst der Materialist die Unbeständigkeit als Herausforderung zu einem Rennen gegen die Uhr auf, bei dem es darum geht, möglichst viele bedeutende Erlebnisse zu sammeln, bevor das unvermeidliche Ende da ist. Auf der primitivsten Ebene führt das zu einer Kultur des Konsumierens, da der Materialist in uns ständig neue Objekte sucht, um seine Kollektion bedeutsamer Erlebnisse aufzustocken. Zum Beispiel renoviert der Materialist eine Küche und konzentriert sich nur auf die Schränke und Geräte, ohne daran zu denken, wie er seelisch auf das Lebensgefühl in dieser Küche reagiert, wie er in seiner Bewusstheit wohnt, während er sich durch diesen Raum bewegt. Irgendwann hat der neue Kühlschrank seinen Glanz verloren und der Materialist beschließt, dass er wieder eine brandneue Küche braucht, damit er sich wenigstens zeitweilig wieder wohlfühlen kann.

Da all seine mentale Energie für die Jagd nach dem nächsten Objekt draufgeht, vermeidet er gewöhnlich jede aussagekräftige Bewusstheit seiner selbst als Subjekt, als das „Ich“, das er doch eigentlich glücklich machen wollte. In einer Furcht erregenden, unbeständigen Welt lebt der Materialist so weit von seiner Bewusstheit entfernt, wie es nur geht. Das ist ein Leben im „Macher-Modus“, in dem man Schmerz verdrängt und dem Vergnügen nachjagt, ausgeliefert der „Flucht-oder-Kampf“-Struktur des Nervensystems, beschäftigt mit momentanen Maßnahmen, ständig auf der Hut vor akuten Bedrohungen. Wenn man das eigene subjektive Erleben nicht anschauen will, dann lässt man sich am besten von dem leiten, was man ganz instinktiv spürt: der zuverlässigen Chemie von Vergnügen und Schmerz.

 

Empathie und Humor für den Materialismus entwickeln

Materialismus – die menschliche Krankheit, die aus der Objektivierung eines „Daheim“ entsteht – sollte nicht verurteilt werden. Materialismus ist einfach eine unreife Reaktion auf die Realität, eine, die sich durch die gesamte Geschichte der Menschheit zieht, und die von Kultur und Philosophie immer wieder neu zementiert worden ist. Eine Reaktion, der wir auf die eine oder andere Art alle zum Opfer fallen, bis wir den Lernprozess, wie unser Herz-Geist wirklich arbeitet, vollständig absolviert haben. Wir sollten Wall Street oder irgend jemanden nicht zu scharf verurteilen, weil sie den selben Fehler der Objektivierung machen, den die Lebewesen machen, seit… nun ja, seit es sie gibt. Gleichzeitig bedeutet dieses Nicht-Verurteilen keineswegs Passivität: Wenn wir die fehlgeleiteten Motive des Materialismus verstünden, würden wir die immer weiter um sich greifende Gier nicht mehr als soziale Norm aufrechterhalten.

Unser materialistischer Impuls ist vollkommen verständlich, so wie der Wutanfall eines Kindes vollkommen verständlich ist. Wir können an unserem Materialismus nichts ändern, solange wir nicht etwas echte Empathie für ihn entwickeln und dazu ein bisschen Humor. Wenn ein Kind einen Wutanfall hat, geben wir unser Bestes, geschickt und mitfühlend damit umzugehen und wahrzunehmen, wo das Kind steht und inwiefern seine Ängste berechtigt sind. Das heißt aber nicht, dass wir die Hoffnung aufgeben, das Kind werde reifer werden und irgendwann lernen, seine Emotionen besser zu regulieren. Dasselbe gilt für die unreifen Versuche des Erwachsenen, Objekte zu kontrollieren, um das fließende Phänomen seines Lebens in eine Art von dauerhaftem Zuhause zu verfestigen. Natürlich fangen wir alle da an, wo wir stehen, aber wir versuchen, auf eine größere Reife zuzusteuern.

 

Größere emotionale Reife entwickeln

Der aufwach-istische Weg dreht sich allein darum, angesichts der Regeln der Realität unsere materialistischen Trotzphasen schrittweise besser regulieren zu lernen. Zu erkennen, mit einer spielerischen Einstellung, dass wir eine kindische Einstellung zur Realität haben – das ist der Punkt, an dem der Weg anfängt. Bei diesem Weg geht es nie darum, Emotionen zu verwerfen; es geht darum, größere emotionale Reife zu entwickeln, das heißt, mehr Bewusstsein zu haben, wie unsere Emotionen operieren; zu lernen, dass sie eine tiefe Intelligenz beinhalten, dass sie aber auch sehr zerstörerische Hindernisse aufwerfen. Materialismus unreif zu nennen ist kein Werturteil, sondern einfach die Erkenntnis, dass wir durch ihn versuchen, Objekte in etwas zu verwandeln, was Objekte nicht sein können – stabil und dauerhaft.

Gleichzeitig können wir nicht so tun, als habe die Außenwelt keinen Einfluss auf unser Bewusstsein. Objekte sind wichtig. An einem warmen und sonnigen Tag fühlen wir uns anders als an einem kalten, regnerischen. In Armut zu leben, im Gegensatz zu einem privilegierten Leben, hat einen riesigen Einfluss darauf, wie ein Mensch sein Leben und seinen Geist erlebt. Ein Mensch, der sich von einem heftigen Trauma erholt, ist in einer anderen Situation als einer, der Probleme ähnlichen Ausmaßes nicht kennt. Den Buddhismus zu studieren heißt nicht, dass man die Außenwelt – und wie sie uns beeinflusst – aufgibt. Aufwach-ismus heißt, ein wissbegieriger Student der Beziehungen zwischen inneren und äußeren Faktoren, zwischen Subjekt und Objekt zu werden.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch In dir selbst zu Hause sein. Buddhas Lehre für die heutige Zeit von Ethan Nichtern.
Wir danken dem Arbor Verlag für die Abdruckgenehmigung.