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Lynne Henerson: Wie Emotionen schüchterner Menschen funktionieren
Positive und negative Gefühle können gleichzeitig bestehen.
Lynne Henderson
Unsere drei Systeme zur Regulierung von Emotionen

Jeder hat drei Systeme zur Regulierung von Emotionen: Das Bedrohungssystem, das Antriebssystem und das Beruhigungssystem. Das jeweilige Gleichgewicht zwischen ihnen ist von Charakter zu Charakter und von Individuum zu Individuum verschieden. Bei einem schüchternen Menschen ist das Bedrohungssystem besonders aktiv. In schwierigen Situationen hat er dann Angst, und wenn er isoliert ist, wird er traurig. Damit wird das Gleichgewicht noch mehr gestört… Was kann man in solchen Momenten tun, um das Gleichgewicht wieder herzustellen?

Wenn unser Bedrohungssystem besonders aktiv ist, entstehen mehr Gefühle, die auf das Gefühl der Bedrohung zurückgehen: Man empfindet Angst, Wut, Groll und Gereiztheit, Scham und Pessimismus. Motivation und Energie nehmen ab, und man ist Gefühlen der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert. Zufriedenheit, Erfüllung und Frieden sind dann weit weg.
Wenn wir aber verstehen, wie unser Gehirn funktioniert, können wir in Ich-Distanz gehen und die drei Systeme wieder in Gleichgewicht bringen.

Das ist ein bisschen wie „Soziales Fitnesstraining” – es ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Training körperlicher Fitness. In ganz ähnlicher Weise ist die Arbeit an Schüchternheit, indem man Mitgefühl kultiviert, eine Art Physiotherapie des Denkens. Man kann lernen und üben, wie man Zustände von Mitgefühl herstellt, die einem helfen, die Systeme des Gehirns in einen Zustand der Ausgeglichenheit zu bringen. Man kann sich auch an andere wenden, damit sie einem dabei helfen. Man kann an Verhalten, Gedanken und Gefühlen arbeiten. Außerdem können körperliche Betätigung, Ernährung und Medikamente eine Hilfe sein.

 

Rationalität alleine ist keine große Hilfe

Wir wollen das Bedrohungssystem nicht ausschalten, denn es hat sich aus guten Gründen entwickelt und ist für uns von Nutzen. Aber wir wollen auch nicht, dass es zu dominierend ist. Es kann außer Kontrolle geraten, und wenn das der Fall ist, kann es Probleme verursachen. Wenn Emotionen, die Reaktionen auf Bedrohung und Gefahr sind, zu leicht ausgelöst werden oder zu intensiv sind, ist es schwer, die Systeme in einem Zustand der Ausgewogenheit zu halten.

Wenn man versucht, mit der emotionalen Unausgeglichenheit, die die Folge ist, allein rational umzugehen, ist das keine große Hilfe. Unser neues, rational orientiertes Gehirn sagt, dass die Party oder die Verabredung in Wirklichkeit nicht so bedrohlich ist, aber die Muster des alten Gehirns vermitteln einem, dass die Situation tatsächlich gefährlich ist. Man denkt vielleicht nicht oder erinnert sich nicht daran, dass diese warnenden Gedanken und Gefühle zu den Mustern des alten Gehirns gehören. Man versucht dann, sie zu unterdrücken und zu kontrollieren, indem man sich unter Druck setzt und Vorwürfe macht. Man schämt sich dafür, dass man unter Menschen Angst hat und empfindlich ist, und man versucht eher, die Gefühle zu managen und zu bekämpfen, statt sie anzunehmen, zu versuchen, sie zu verstehen, sich zu trösten und mit ihnen zu arbeiten.

 

Wenn man versucht, in der Tapete zu verschwinden

Wenn man schüchtern ist und auf eine Party geht und dort feststellt, dass man außer der Gastgeberin niemanden kennt, dann kann das Bedrohungssystem automatisch aktiviert werden. Soziale Angst kann plötzlich stark zunehmen, auch wenn man weiß, dass man die Fähigkeit und Gewandtheit besitzt, auf jemanden zuzugehen und ein Gespräch anzufangen. Man weiß auch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Leute nur darauf warten, einen streng zu beurteilen, sehr gering ist, aber dieses Gefühl nimmt trotzdem zu. Als Nächstes stellt man fest, dass die Beine einen an die Seite der Gastgeberin tragen, um ihr zu helfen, Tabletts mit Essen herumzureichen, um mit niemandem sprechen zu müssen.

Oder man merkt, dass man an eine Stelle hinter den Tisch mit dem Buffet driftet, wo Leute einen schwer in ein Gespräch verwickeln können. Wenn jemand kommt, wenden wir uns ab und wirken sehr mit der Roastbeef-Platte beschäftigt. Vielleicht schwitzt man ein bisschen, fühlt sich wacklig und ist sich bewusst, dass man Herzklopfen hat. Diese Aktivierung des Bedrohungssystems geht so schnell, dass man keine Zeit hat, sich all das auszudenken. Man denkt eigentlich überhaupt nichts, außer Gedanken, die mit Bedrohung und Gefahr zu tun haben, wie: „Ich sehe doof aus“, und „Ich muss aufpassen, dass ich nichts Peinliches anstelle“, während man versucht, in der Tapete zu verschwinden.

Und wie war das mit dem Vorstellungsgespräch, als Sie sich sorgfältig vorbereitet und vorher kundig gemacht hatten, was das Unternehmen sowie seine Aktivitäten und auch die mit dem Job verbundenen Aufgaben betraf, und Sie ihre Qualifikationen daraufhin geprüft hatten? Sie hatten eine Liste von Fragen zusammengestellt, die Ihre Gesprächspartner wahrscheinlich stellen würden, und waren innerlich die Antworten durchgegangen, als der Lift das Stockwerk erreichte, wo das Interview stattfinden sollte. Plötzlich war ihr Kopf leer. Sie spürten, wie plötzlich die Angst hochstieg und ihr Mund trocken war. Plötzlich hatten Sie Panik und wollten das Gespräch absagen. So schnell kann soziale Angst da sein, wenn das Bedrohungssystem anspringt. Man kann das Gefühl haben, dass es einen überwältigt.

 

Unser Gehirn ist so kreativ

Ein anderes Problem ist, dass unser neues Gehirn, das die Fähigkeit hat, sich seiner selbst bewusst zu sein, richtig Spaß daran haben kann, über potentielle Gefahren und Demütigungen nachzugrübeln und sich ganz den Sorgen hinzugeben. Es ist erstaunlich kreativ im Ausdenken aller möglichen schrecklichen und katastrophalen Dinge, die passieren könnten. So funktioniert das Bedrohungssystem eben. Es stellt sich immer auf das Schlimmste ein: Besser auf Sicherheit gehen, als später bedauern, nennen wir das. Das ist seine Aufgabe, dafür ist es gemacht.

Ich kann mich erinnern, wie ich kurz vor einem Examen einmal so große Angst hatte, dass ich dachte, ich würde ohnmächtig. Sie haben wahrscheinlich schon die Erfahrung gemacht, dass Sie einen Schub von Angst spürten, als Sie jemanden zum ersten Mal getroffen haben – vielleicht als Sie Hallo sagten oder sich die Hand gaben. Im Rückblick sehen Sie, wie automatisch die soziale Angst da ist. Sie kommt wie aus heiterem Himmel: zack! Und mit ihr automatisch solche Gedanken: „Mir wird nichts einfallen, was ich sagen könnte. Man sieht mir an, dass ich Angst habe. Ich höre mich dumm an. Er/sie wird denken, dass ich dumm bin.“

Dieses Verharren dabei, in welcher Weise Sie Ihre Erwartungen nicht erfüllen, kann dadurch verändert werden, dass man seine automatischen Gedanken in Frage stellt oder sich Dinge sagt, die einen eher unterstützen. Man kann sich auch darauf konzentrieren, was man an dem Menschen interessant findet, oder man hält nach gemeinsamen Interessen Ausschau. Und auch das wird wieder leichter sein, wenn man gelernt hat, freundlich und nicht streng mit sich selbst zu sein.

 

Den Schmerz lindern…

Was ist aber, wenn eine Begegnung nicht so gut verlief, wie man erwartet hat? Grübeln Sie dann darüber nach? Kennen Sie den Teufelskreis aus Scham und Selbstvorwurf? Es kann Ihnen auch passieren, dass Sie auf die andere Person wütend sind, weil sie nicht mehr auf Sie zugekommen ist. Erinnern Sie sich an den Teufelskreis aus Wut und Vorwurf? Die Forschung hat gezeigt, dass diese Art des Grübelns die soziale Angst verschlimmert und mit Traurigkeit und gedrückter Stimmung verbunden ist.

Übungen können Ihnen helfen, das Beruhigungssystem zu nutzen, wenn es Ihnen mit sich oder mit anderen Menschen schlecht geht. Sie können auch Ihren Schmerz lindern. Der Buddhismus, eine spirituelle Tradition, die große Betonung auf Mitgefühl legt, lehrt, dass Empfinden von Freundlichkeit gegenüber anderen und gegenüber sich selbst – besonders wenn man enttäuscht ist oder sich im Stich gelassen fühlt – zu mehr emotionalem Wohlbefinden führt.

Wir wissen, dass intensive Schüchternheit und soziale Angst Teil der Reaktion auf Gefahr ist, die dem Schutz dient. Wenn man Angst hat, wird die Amygdala aktiviert, ein mandelförmiges Organ im Zentrum des Gehirns. Wenn es häufig dazu kommt – zum Beispiel weil die Umgebung viel Stress erzeugt oder aufgrund von Veranlagung, aufgrund ungelösten Schmerzes und/oder eines Traumas aus der Vergangenheit oder aus einem anderen Grund –, wird die Amygdala sensibilisiert. Sie reagiert dann schneller auf geringere Gefahren oder auf die Empfindung, bedroht zu sein, und das führt dazu, dass Angst leichter ausgelöst wird und intensiver ist. Wenn man sieht, dass Angst Teil eines Systems ist, das sich zu unserem Schutz entwickelt hat, aber das neue Gehirn die Oberhand bekommen und Gefahr übertreiben kann, dann sollte man darüber nachdenken, wie man diese Sensibilität verringern kann. Es kann eine große Hilfe in dieser Richtung sein, wenn man freundlich und mitfühlend mit sich ist und damit das Bedrohungssystem mit den anderen Systemen in ein ausgewogeneres Verhältnis bringt.

 

Den Kontakt zu positiven Gefühlen nicht verlieren

Ihr Gehirn ist so gemacht, dass Ihr Bedrohungssystem in vielen Situationen Ihre positiven Gefühle überwältigt und außer Kraft setzt. Stellen Sie sich vor, dass Sie einen ruhigen Spaziergang durch den Wald oder ein Picknick unter einem Baum genießen oder ein Stelldichein mit Ihrem Partner erleben, und plötzlich hören Sie die Sirene eines Polizeiwagens oder der Feuerwehr. Wahrscheinlich wird sich Angst einstellen, und Sie verlieren alles Interesse an dem Essen oder an romantischen Möglichkeiten. Das ist so, weil Sie Ihre Aufmerksamkeit der Gefahr zuwenden, und damit Sie das tun können, müssen Sie Ihre positiven Interessen und Emotionen abstellen.

Manchmal kann man natürlich in zwei Richtungen zugleich gezogen werden, wenn nämlich die Situation positive Emotionen stimuliert, aber auch Risiko oder Gefahr mit sich bringt. Wenn man zum Beispiel überlegt, ob man sich mit jemandem verabreden möchte, dann ist man vielleicht begeistert und hoffnungsvoll, weil eine neue Beziehung entstehen könnte, aber zugleich hat man möglicherweise Angst vor Ablehnung. In dieser Situation muss man vielleicht lernen, die Angst zu überwinden, um das Risiko einzugehen und die Einladung an die betreffende Person auszusprechen, damit man wenigstens eine Chance hat, die Verabredung zu genießen. Wenn Angst die Oberhand gewinnt, wird man nie anrufen und nie wissen, ob das Rendezvous gut oder schlecht verlaufen wäre.

Manchen Menschen verschafft es natürlich gerade Lust und positive Erregung, wenn sie ihr Gefühl eines Risikos steigern – zum Beispiel Skiabfahrtsläufer oder Fallschirmspringer. Der Punkt ist, dass positive und negative Emotionen ständig gegeneinander abgewogen und ausgeglichen werden. Wir treffen Entscheidungen, welchen wir mit unserem Handeln folgen, das heißt, von welchem der drei Systeme wir unser Verhalten bestimmen lassen. Angst kann zur Folge haben, dass man Kontakt mit zwei Arten positiver Gefühle verliert, die beide für unser Wohlbefinden wichtig sind.

 

Wenn man unter Menschen ist

Wenn man schmerzhaft schüchtern oder sozial ängstlich ist, kann es passieren, dass man Kontakt mit seinen positiven Gefühlen und Wünschen verliert, wenn das Bedrohungssystem das aktivierende und das beruhigende System „aussticht“. Man vergisst die Freude, die man empfindet, wenn man unter Menschen ist, und wie interessant sie sein können, denn man ist völlig auf die Tatsache konzentriert, dass sie einen nicht gut bewerten oder ablehnen könnten. Ich möchte diese Angst nicht verharmlosen. Es kann sehr beunruhigend oder ärgerlich sein, wenn man nicht akzeptiert wird. Ablehnung oder Ausgeschlossensein kann jeden so sehr in seinem Wohlbefinden treffen wie eine physische Bedrohung, und es kann genauso viel Schmerz verursachen. Sozialer Ausschluss aktiviert sogar Systeme im Gehirn, die mit physischem Schmerz assoziiert sind.

Entscheidend ist, dass man dazu neigt, sich zu sehr mit Risiken zu befassen und für soziale Bedrohung überempfindlich zu sein, wenn man sozial ängstlich ist. Dann vergisst man auch seine positiven Eigenschaften und Qualitäten und frühere Erfahrungen, als man Spaß daran gehabt hat, mit Menschen zu sprechen und mit ihnen zusammen zu sein. Man vergisst auch, dass es anderen hilft, uns ein wenig kennenzulernen und dann auch mögen zu können, wenn man sie mag und ihre Gesellschaft genießt und sie das wissen lässt. Menschen können nur mögen, was sie kennenlernen.

 

Lernen, Angst als etwas Nützliches anzunehmen

Sie haben wahrscheinlich auch bemerkt, dass es leicht ist, Menschen, die einen mögen und das auch zeigen, ebenfalls zu mögen. Schließlich haben sie einen Blick für Qualität. Vielleicht sind es intelligente, kluge Leute und wirkliche Persönlichkeiten. Und da das in beiden Richtungen wirkt, ist es nützlich, nicht zu verbergen, wenn man jemanden mag.
Es ist auch nützlich, darüber nachzudenken, was man an dem anderen interessant und liebenswert findet. Dies ist eine gute Gelegenheit, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Wenn man sich auf den anderen konzentriert und nicht auf die eigenen Angstgefühle, bringt einen das auch von Grübeleien und Sorgen ab. Normalerweise macht man so die Erfahrung – wenn man weiter Risiken eingeht, zum Beispiel auf Partys geht, neue Menschen kennenlernt, Gelegenheiten zu Vorstellungsgesprächen nutzt –, dass man sich mit der Zeit wohler fühlt.

Um Angst zu verringern, ist es also sinnvoll, wenn wir versuchen, uns den Situationen zu stellen, die wir im Moment für zu schwierig halten. Und dabei ist es hilfreich, wenn wir lernen, die Angst anzunehmen. Wenn wir sie als etwas Natürliches sehen können, weil sie auf unsere Evolution zurückgeht, und dann – so gut man kann – die Dinge tun, die wir tun möchten, ist das eine freundliche und unterstützende Haltung.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Finde den Mut, Du selbst zu sein von Lynne Henderson