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Was Teile sind
Richard C. Schwartz

Bevor wir tiefer in die Arbeit einsteigen, will ich genau erklären, was ich als Teile bezeichne. Wie schon erwähnt, verwechseln wir unsere Teile üblicherweise mit der extremen Rolle, in der sie sich befinden. Das führt dazu, dass wir sie lediglich bekämpfen, meiden oder herabsetzen. 

Hier ist eine Parallele mit bestimmten Menschen erkennbar. Nachdem diese traumatisiert oder wiederholt gedemütigt wurden, zeigen sie oft ein extremes Verhalten – sie werden süchtig, haben Wutanfälle oder Panikattacken, sie werden narzisstisch oder sind von etwas besessen. Unsere Kultur und das psychiatrische Establishment reagieren darauf normalerweise, indem sie die Erscheinung als pathologisch bezeichnen und monolithische Diagnosen stellen. Durch die heroischen Bemühungen von Bessel van der Kolk und anderen – wie Gabor Maté im Bereich der Suchttherapie – ändert sich diese Einstellung jedoch allmählich. Dadurch können solche Extreme als Produkte von Traumen oder Vernachlässigung gesehen und aus ihrer Geschichte befreit werden. Wie ich immer wieder betonen werde, sind weder Teile noch Menschen von Natur aus mangelhaft oder destruktiv.

Wir alle haben solche Teile, und die sind alle wertvoll, falls sie nicht durch etwas, was früh in unserem Leben geschehen ist, belastet und in eine verzerrte Rolle gezwungen wurden. Durch IFS beginnt ein Prozess, der es ihnen ermöglicht, sich wieder vollständig in ihren von Natur aus wertvollen Zustand zurückzuverwandeln. Sobald das geschehen ist, gibt der Teil nicht nur seine extreme Rolle auf, wir haben jetzt auch Zugang zu seinen Qualitäten und Ressourcen, zu denen wir vorher keine Verbindung herstellen konnten.

Wie sich gezeigt hat, sind Teile nicht pathologisch, und das Ego stellen sie auch nicht dar. Es sind kleine innere Wesen, die ihr Bestes versuchen, uns zu schützen, sich gegenseitig zu schützen und unser Inneres zusammenzuhalten. Sie haben voll ausgeprägte Persönlichkeiten, das heißt jeweils unterschiedliche Wünsche, ein unterschiedliches Alter, verschiedene Meinungen, Talente und Ressourcen. Statt uns nichts als Ärger und Leid zu bescheren (was sie freilich tun können, solange sie in ihrer extremen Rolle sind), sind es wunderbare innere Wesen. 

Es ist ein natürlicher Zustand des menschlichen Geistes, Teile zu haben. Diese entstehen also nicht durch ein Trauma oder indem wir äußere Stimmen oder Energien verinnerlichen. So sind wir eben gebaut, und das ist gut, denn alle unsere Teile haben wertvolle Eigenschaften und Ressourcen, die sie uns schenken können. 

Ein wütender Teil ist daher kein Knäuel aus Wut. Wenn wir ihm unvoreingenommen zuhören, erfahren wir, dass es viele Gründe gibt, weshalb er wütend ist. Er empfindet jedoch auch Angst und Traurigkeit, und er versucht sein Bestes, uns zu beschützen, indem er wütend ist. Dabei ist immer zu bedenken, dass Teile verschieden alt sind und unterschiedliche Wünsche, Emotionen und Meinungen haben. Sie sind also wie kleine innere Menschen, und weil die meisten ziemlich jung sind, handelt es sich eher um innere Kinder.

Wenn wir in der Kindheit ein Trauma oder eine Bindungsverletzung erlebt haben, hatten wir nicht genügend körperliche und geistige Ressourcen, um uns zu schützen. Anders gesagt, unser Selbst konnte unsere Teile nicht beschützen, weshalb diese das Vertrauen in die innere Führungsfähigkeit des Selbst verloren. Womöglich haben sie das Selbst sogar aus dem Körper gedrängt und den Schlag selbst eingesteckt, weil sie meinten, sie müssten die Führung übernehmen, um uns und unsere anderen Teile zu schützen. Indem sie versuchten, mit dem Notfall umzugehen, blieben sie jedoch in einem parentifizierten Zustand stecken und tragen nun eine gewaltige Last an Verantwortung und Angst, genau wie ein parentifiziertes Kind in einer realen Familie. 

Aus diesem Grund hilft es den Teilen wirklich, wenn sie erkennen, dass wir nicht mehr so jung sind wie früher. Allerdings sind sie nicht deshalb stecken geblieben, weil sie sich nicht im Klaren darüber wären, wie alt wir sind, sondern weil sie in der Vergangenheit leben. Sie sind zeitlich in dem Trauma erstarrt, das wir erlebt haben. Deshalb denken sie weiterhin, sie müssten andere Teile beschützen, die von dem damaligen Erlebnis ebenfalls verletzt wurden, und sie tragen die Lasten – die extremen Überzeugungen und Emotionen – aus dieser Zeit. Mit all dem Druck und Schrecken fühlen sie sich allein gelassen. Der schlichte Akt, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten, um ihnen zuzuhören, mit ihnen zu sprechen und ihnen mitzuteilen, dass sie doch nicht allein sind – weil wir da sind und uns um sie kümmern –, ist ein radikaler Schritt, auf den unser inneres Waisenhaus sehr positiv reagiert.

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Kein Teil von mir ist schlecht von Richard C. Schwartz. Wir danken dem Arbor Verlag für die Abdruckgenehmigung.