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Linda Graham: Was Resilienz ist
Linda Graham
Wie wir unser Gehirn neu verdrahten und sie wiedererlangen

Wir sind alle gezwungen, mit Schwierigkeiten und Stürmen in unserem Leben zurechtzukommen – wir verlieren unser Portemonnaie und unsere Autoschlüssel, entdecken Schimmel im Badezimmer, versäumen drei Tage im Büro, um ein krankes Kind zu pflegen –, und wir tun es. Wir sind jeden Tag resiliente Helden in unserem eigenen Leben, wenn wir geschickt mit den störenden, ungewollten Veränderungen umgehen, die durch die kaputte Waschmaschine entstehen oder dadurch, dass das Auto ein neues Getriebe benötigt.

Gelegentlich müssen wir auch unter dem Druck größerer Sorgen und Tragödien Haltung bewahren: bei Unfruchtbarkeit oder Untreue, einer Diagnose auf Bauchspeicheldrüsenkrebs, dem Verlust eines Arbeitsplatzes, dem Verwundetwerden eines Sohnes bei einem Gefecht im Ausland. Manchmal gehen zu viele Dinge auf einmal katastrophal schief: eine Tochter wird festgenommen, weil sie Haschisch verkauft hat, wir lassen einen Laptop im Flugzeug liegen, wir finden heraus, dass der Bauunternehmer, der gerade unser Dach repariert, wegen schlampiger Bauarbeiten verklagt worden ist, all das genau in der Woche, in der wir unsere alternde Mutter in einem Pflegeheim unterbringen. Wir beginnen uns zu fühlen, als tränken wir aus einem Feuerwehrschlauch und stünden kurz davor, unterzugehen.

 

Die Fähigkeit, auf Druck und Tragödien schnell, anpassungsfähig und effektiv zu reagieren

Die meisten von uns fühlen sich jeden einzelnen Tag durch irgendeinen äußeren Stressor innerlich gestresst. Wenige von uns gehen durch ihr gesamtes Leben, ohne dass ihre Resilienz durch den Schmerz und das Leiden, die der Conditio humana inhärent sind, ernsthaft herausgefordert würde. Keiner von uns ist dagegen gefeit, dass von ihm verlangt wird, mit etwas zurechtzukommen, um das er nie gebeten hat, mit etwas, das er wirklich zutiefst nicht will.

Mit Resilienz können wir geschickt auf derartige unwillkommene Herausforderungen reagieren. Resilienz ist die Fähigkeit, auf Druck und Tragödien schnell, anpassungsfähig und effektiv zu reagieren. Forscher haben herausgefunden, dass es keinen besten oder unfehlbaren Weg gibt, Schwierigkeiten zu meistern. Das Imstandesein, unsere Bewältigung an eine spezielle Herausforderung anzupassen, ist die Fertigkeit, die es uns ermöglicht, unseren Halt zu  finden, wenn wir von dem Unbekannten, von Stress oder von einem Trauma aus dem Gleichgewicht geworfen werden. Flexibles Reagieren kann uns durch die Höhen und Tiefen unserer Tage tragen. Meine Yogalehrerin Debra McKnight-Higgins drückt es folgendermaßen aus: „Selig sind die, die  flexibel sind, denn sie werden nie verbogen sein.“

 

Resilienz erhöhen, indem wir die Funktionsweise des Gehirns verändern 

Durch die neuesten Fortschritte in der Neurowissenschaft wissen wir heute, dass Resilienzfähigkeiten von Natur aus im Gehirn vorhanden sind, fest verdrahtet durch die Evolution. Wie gut sich diese Fähigkeiten im Zuge unserer Reifung entwickeln, hängt von unseren Reaktionen auf unsere Lebenserfahrungen ab sowie davon, wie diese Erfahrungen das neuronale Schaltsystem und die Funktionsweise unseres Gehirns prägen – welche wiederum unsere Reaktionen beeinflussen. Ob wir dazu neigen, nach schrecklichen Rückschlägen wieder auf die Beine zu kommen oder da liegen zu bleiben, wo wir hingeworfen wurden, hängt von unseren erlernten Mustern des Reagierens auf andere Menschen und Ereignisse ab. Diese Muster verfestigen sich, werden nicht nur in ein Verhaltensrepertoire aufgenommen, sondern von einem frühen Alter an tief in unserem neuronalen Schaltsystem codiert. Sie prägen nicht nur die Art und Weise, wie wir Herausforderungen bewältigen, sondern auch die Funktionsweise des Gehirns an sich.

Erst in den letzten Jahren haben Neurowissenschaftler begonnen zu verstehen, wie man sich die Fähigkeiten des Gehirns zunutze machen kann, um diese neuronalen Schaltkreise radikal neu zu verdrahten und die Funktionsweise des Gehirns zu ändern und so die Resilienz zu erhöhen. Die Wissenschaft hat noch nicht alle Antworten gefunden. Die Technik, die in die „Blackbox“ des Gehirns hineinsehen und seine Funktion in Echtzeit beobachten kann, während es Musik erzeugt, auf Kampfszenen reagiert oder über den Tod eines geliebten Haustieres betrübt ist, ist gerade mal zwei Jahrzehnte alt. Die Anwendung der Untersuchungsergebnisse der Neurowissenschaft auf das Verhalten in Echtzeit, wenn Menschen gerade den Verlust einer Arbeitsstelle oder das Fliegen von der Schule bewältigen, ist noch jünger.

 

Mit den unerwarteten Drehungen und Wendungen des Lebens fertig werden

Es gibt täglich Berichte von neuen Entdeckungen, aber das Datenmaterial ist weiterhin alles andere als vollständig. Wie bei jeder neuen Wissenschaft treten Widersprüche und Kontroversen auf, sie werden gelöst und treten erneut auf, wenn sich neue Betrachtungsweisen entwickeln. Neue Erkenntnisse über die Strukturen des Gehirns ermöglichen es Forschern, Hypothesen über die dynamischen, in einer Wechselbeziehung stehenden Funktionen jener Strukturen anzustellen, welche die neuronalen Schaltkreise, Leitungsbahnen und Netzwerke, die durch diese Strukturen geschaffen werden, umgestalten können und sogar die Strukturen selbst verändern können. Nach Aussage meines Freundes Rick Mendius ist die moderne Neurowissenschaft „so neu, dass wir uns dabei wohlfühlen müssen, uns nicht nur in das Unbekannte vorzuwagen, sondern in Irrtümer.“Es ist glasklar, dass wir lernen können, nach Belastungen besser in unseren ursprünglichen Zustand zurückzuspringen (bounce back), indem wir die erlernten Bewältigungsmuster unseres Gehirns bewusst neu verdrahten. Um dies erfolgreich und wirkungsvoll zu tun, müssen wir wissen, wie wir die neuen Erfahrungen auswählen, die diese Neuverdrahtung am besten verrichten werden. Der Neurowissenschaftler Richard Davidson drückt es folgendermaßen aus: „Aufbauend auf allem, was wir in der Neurowissenschaft über das Gehirn wissen, ist Veränderung nicht nur möglich, sondern sogar eher die Regel denn die Ausnahme. Es geht wirklich nur darum, welche Einflüsse wir für unser Gehirn wählen.“

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Der achtsame Weg zu Resilienz und Wohlbefinden von Linda Graham.