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Schieß keine Pfeile
Rick Hanson
Auch wenn du Schmerzen hast – du musst nicht leiden

Ein gewisses Maß an körperlichem und mentalem Schmerz ist unvermeidlich. Ich erinnere mich, dass ich mit sechs Jahren auf einem vereisten Gehweg in Illinois ausrutschte und voll auf mein Steißbein fiel: Autsch! Viel später, als ich fünfzig Jahre alt war, starb meine Mutter und das war eine andere Form von Schmerz.

Um körperlich zu überleben, brauchen wir einen Körper, der uns sagt, wenn er krank oder verletzt ist. Um uns psychologisch und in unseren Beziehungen gut zu entwickeln, brauchen wir einen Geist, der Signale des Leidens, wie Einsamkeit, Wut oder Angst zeigt, wenn wir abgelehnt, falsch behandelt oder bedroht werden.

Um eine Metapher des Buddha zu verwenden, können wir die unvermeidbaren Schmerzen des Lebens als die „ersten Pfeile“ bezeichnen, von denen wir getroffen werden. Aber durch unsere Reaktionen auf diese Pfeile, setzen wir dem Ganzen noch die Krone auf, d.h., wir verschlimmern alles und schaffen uns zusätzliches Leiden. Du könntest zum Beispiel auf Kopfschmerzen mit der Angst reagieren, dass es bedeutet, du hättest einen Hirntumor, oder auf eine Ablehnung in der Liebe könntest du mit harter Selbstkritik reagieren.

Wieso wir negativ reagieren

Wir haben auch oft verärgerte Reaktionen, wenn eigentlich nichts Schlimmes geschehen ist. Du fliegst zum Beispiel in einem Flugzeug und alles ist in Ordnung, aber du machst dir Sorgen, dass es abstürzen könnte. Oder du triffst dich zu einem Rendezvous und es macht Freude, aber dann ruft er/sie einen Tag lang nicht an und du bist enttäuscht.

Und das Absurdeste ist, dass wir manchmal soar auf positive Ereignisse negativ reagieren. Vielleicht hat dir jemand ein Kompliment gemacht, aber du hattest Minderwertigkeitsgefühle, oder dir wurde bei der Arbeit eine neue Möglichkeit eröffnet, und du machst dir Sorgen, ob du diese Aufgabe bewältigen kannst, oder jemand möchte die Freundschaft mit dir vertiefen, und du machst dir Sorgen, dass du den anderen enttäuschen könntest.

Erkenne deine zweiten Pfeile

All diese Reaktionen sind „zweite Pfeile“ – diejenigen, die wir selbst abschießen. Dazu gehören: übertriebene Reaktionen auf kleine Dinge: einen Groll hegen, sich rechtfertigen, in Schuldgefühlen ertrinken, nachdem du deine Fehler eingesehen hast, an lang vergangene Dinge denken, den größeren Kontext aus den Augen verlieren, dir über Dinge Sorgen machen, die du nicht kontrollieren kannst und in deinen Gedanken vergangene Gespräche noch einmal durchgehen.

Die zweiten Pfeile übersteigen in ihrer Zahl bei Weitem die ersten Pfeile. Du stehst auf dem Schlachtfeld des Lebens und blutest vor allem aus selbst verursachten Wunden. Es gibt genügend Pfeile im Leben, ohne die vielen Pfeile, die du selbsthinzufügst!

So geht's

Akzeptiere die Unvermeidbarkeit der ersten Pfeile. Sie schmerzen, aber Schmerz ist der Preis des Lebens. Versuche, nicht mit Ärger auf den Schmerz zu reagieren, als wäre er eine Beleidigung, oder durch den Schmerz beschämt zu werden, als wäre er ein persönlicher Fehlschlag.

Wenn der Schmerz kommt, halte ihn in einem großen Raum des Gewahrseins. Um eine traditionelle Metapher zu verwenden: Stell dir vor, du schüttest einen großen Löffel Salz in eine Tasse Wasser und trinkst es – Pfui! Und dann stell dir vor, du rührst diesen Löffel Salz in eine große Schüssel mit sauberem Wasser und trinkst eine Tasse davon: nicht so schlimm. Es ist die gleiche Menge Salz – der gleiche körperliche oder emotionale Schmerz –, aber nun in einem größeren Kontext gehalten und aufgelöst.

Es gibt bedingungslosen inneren Frieden

Sei dir des Gewahrseins bewusst: Es ist wie der Himmel – Schmerz durchzieht das Gewahrsein, wie stürmische Wolken den Himmel, und das Gewahrsein selbst wird davon nie verunreinigt oder verletzt. Versuche, den Schmerz sein zu lassen, ohne darauf zu reagieren; das ist ein Schlüsselaspekt eines bedingungslosen inneren Friedens.

Beobachte die zweiten Pfeile. Wir können sie oft leicht sehen, wenn andere die Pfeile auf sich selbst schießen – und dann überlege, wie du Pfeile auf dich selbst schießt. Bringe nach und nach dein Erkennen der zweiten Pfeile in den gegenwärtigen Moment, damit du die Tendenz wahrnimmst, die zweiten Pfeile zu schießen – damit du schließlich in der Lage bist, diese zweiten Pfeile abzufangen, bevor du dich wieder selbst verletzt.

Ein zweiter Pfeil löst oft eine Kaskade von mentalen Reaktionen aus, wie ein Stein, der einen Berghang hinabrollt und in einer Kettenreaktion andere in Bewegung setzt. Um diesen Erdrutsch zu stoppen, beginne damit, deinen Körper so gut es geht zu entspannen. Das wird den beruhigenden parasympathischen Teil deines Nervensystems aktivieren und das sympathische Nervensystem und dessen Flucht-oder-Kampf-Reaktion abbremsen.

Ein Blick aus der Vogelperspektive

Versuche als Nächstes mehr Aspekte der schwierigen Situation zu sehen. Und gleichzeitig auch alle anderen Aspekte deines Lebens heute – besonders die Aspekte, die gut sind. Aufgrund der Vorliebe des Gehirns für Negativität, verengt es sich und fixiert sich auf das Schlechte, deshalb muss man es dazu bewegen, die eigene Sicht zu weiten und auch das zu sehen, was richtig ist. Ein Blick aus der Vogelperspektive, der das ganze Bild sehen kann, deaktiviert auch die neuralen Netzwerke, in denen die Grübeleien entstehen, die zum Schießen der zweiten Pfeile führen. Und ein Blick auf das Ganze stimuliert auch die Kreisläufe an der Seite des Gehirns, die die Dinge so sein lassen können, wie sie sind, ohne darauf zu reagieren.

Wirf nicht noch mehr Scheite ins Feuer. Suche nicht nach noch mehr Gründen, dich zu sorgen, dich selbst zu kritisieren oder dich falsch behandelt zu fühlen. Werde nicht wütend auf dich selbst, weil du wütend auf dich selbst bist! Wenn du diese zweiten Pfeile schießt, verletzt du vor allem dich selbst. Das Leiden in diesen zweiten Pfeilen – von leicht bis sehr intensiv – ist wirklich unnötig. Oder man könnte auch sagen: Schmerz ist unvermeidlich, aber Leiden ist eine Entscheidung.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Just One Thing – So entwickeln Sie das Gehirn eines Buddha von Rick Hanson. Übersetzung: Arbor Verlag/Mike Kauschke.
 

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