Alles darf sein. Das sage ich im Laufe eines Achtsamkeitskurses mehr als einmal. Es ist gewissermaßen das Mantra der Achtsamkeit. Es bedeutet, dass alles – Freude, Unsicherheit, Stress, Angst, Überforderung, Erfolg – da sein darf und man sich für nichts kritisieren muss. Jedes bodenlose Gefühl, jeder destruktive Gedanke, jeder körperliche Schmerz ist Teil des Lebens, auch wenn es uns nicht gefällt. Es geht also nicht darum, was passiert, sondern darum wie wir mit dem umgehen, was passiert.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen lösten das Ticket zu einer Achterbahn der Erfahrungen, wie die meisten von uns sie wohl noch nie erlebt haben. Und keiner weiß, wie viele Runden noch gedreht werden. Da waren Fassungslosigkeit, Mitgefühl, Ablenkung, Überforderung, Unglauben, Vorsicht, viel Unsicherheit. Zu Hause fühlte es sich oft wie Ferien an, die Sonne schien, es wurde Kuchen gebacken – die Nachrichten dagegen schienen wie aus einem seltsamen Film zu kommen. Ja, alles durfte da sein, doch merkte ich auch, wie angestrengt und auch meist erfolgreich mein Gehirn gegen die Realität ankämpfte. Es schien wie eine Parallelwelt, das Familienleben hier und die Welt da draußen ganz weit weg. Erst abends, als der Kopf müde wurde, kamen die schwierigen Emotionen. Es dauerte eine ganze Woche, bis eine der wichtigsten Qualitäten der Achtsamkeit endlich Raum zur Ausbreitung fand: Akzeptanz. Ja, so ist es. Und nein, es ist keine Pause. Das ist jetzt das Leben, jeder Moment ist das Leben.
Erst mit der Akzeptanz konnte ich klare Gedanken fassen, was nun wirklich hilfreich ist in meinem Leben. Und vielleicht ist es das auch für euch:
Selbstfürsorge
In schwierigen Phasen benötigt der Kopf oft einige Zeit, um sich umzustellen. Sorgsam etablierte Routinen und mühsam erkämpfte Freiräume brechen plötzlich weg und der Kopf ist gefangen im Erledigungsmodus. Bewegung, lesen, mit Ruhe essen oder regelmäßige Pausen scheinen plötzlich verhandelbar und zweitrangig. Erst nach einiger Zeit wird deutlich, dass der menschliche Organismus nicht dafür ausgelegt ist, immer nur zu agieren. Das Pumpen unseres Herzschlags zeigt das sehr schön: das Leben besteht aus Anspannung und Entspannung. Eine Zeitlang ist es möglich, in der Anspannung zu leben – auf Dauer aber macht es krank, unglücklich und abweisend.
Daher:
Selbstfürsorge ist überlebenswichtig. Nur wenn unsere eigenen Energie- und Wohlfühltanks gefüllt sind, können wir das Leben meistern und die Person sein, die wir sein möchten. Lesen, spazieren gehen, mal ein Eis mit Schokoladenstreuseln genießen, raus in die Natur, mit Freunden am Telefon die Zeit verquatschen, in die Badewanne legen, gesund und lecker kochen, Sonne tanken, puzzeln, etc. Alles was Freude macht und kein Ergebnis verlangt. Jeden Tag mindestens eine Viertelstunde eine Verabredung mit sich selbst haben, einfach nur, weil es wichtig, richtig und wertschätzend ist. Und nicht vergessen: dem Körper genug Schlaf gönnen. P.S. Zur Selbstfürsorge gehört auch, (wenn möglich) das Home-Office am Abend zu verlassen und den Feierabend oder das Wochenende zu genießen. Auch wenn Mails hereinkommen, so ist und bleibt es enorm wichtig, sich diese Pausen vom Tun zu gewähren.
Innehalten und Atempausen einlegen
Im Erledigungsmodus geht es um folgendes: irgendwo hingelangen, das gewünschte Ergebnis erreichen, am Ziel ankommen. Wir gehen zum Supermarkt, um am Ende Lebensmittel zu haben. Wir fahren mit dem Auto, um beim Arzt anzukommen. Wir arbeiten an einem Projekt, um es fertig zu haben. Jede Pause ist hier hinderlich, und so kann es schnell vorkommen, dass wir durch das Leben hetzen. Gerade in die Bodenlosigkeit der gegenwärtigen Situation und der unsicheren Zukunft vermittelt das „Tun“ ein trügerisches Gefühl von Kontrolle. Das Problem ist: Kopf und Körper können nicht ständig laufen. Wie ein Auto brauchen auch wir regelmäßige Tankstellen und Wartungen, ansonsten bleiben wir irgendwann einfach stehen oder bauen einen Unfall.
Daher:
Es ist wichtig, sich zu erlauben, immer wieder das Tun zu unterbrechen und einfach nur zu sein. Eine Atempause einlegen und neugierig schauen, was gerade jetzt da ist. Körper: Verspannung, Müdigkeit, Hunger? Gedanken: kritisch, antreibend, negativ, motiviert? Emotionen: Unsicherheit, Dankbarkeit, Traurigkeit?
Nur wenn ich weiß, wie meine innere Landschaft aussieht, kann ich das tun, was jetzt hilfreich oder sinnvoll ist. Ein 3-Minuten-Atemraum kann hier ein wunderbares Werkzeug sein, um immer wieder ganz bewusst Luft zu holen.
Vielleicht ist auch das „ACE“ von Dr. Russ Harris (TheHappinessTrap) eine hilfreiche Stütze:
A = acknowledge anerkennen der Gedanken und Gefühle: „Da sind sorgenvolle Gedanken.“ oder „Da kommt Angst auf.“
C = come back into your body den Körper fühlen, sich verankern, z.B. in dem man den Atem spürt, die Fingerspitzen gegeneinanderdrückt, den Körper dehnt. Sich mit dem Körper zu verbinden hilft dabei, in die Gegenwart zu kommen.
E = engage in what you are doing die gegenwärtige Aktivität deutlich wahrnehmen. Es ist hilfreich, sich zunächst die Empfindungen der Sinne bewusst zu machen: Was sehe ich? Was höre ich? Was fühle ich? Dann: Was tue ich gerade? Dieser Aktivität dann die Aufmerksamkeit schenken, sei es essen, Mails schreiben, spazieren gehen, etc.
Dem Tag eine Struktur geben
Der übliche Rhythmus der Tage ist durcheinander. Schon die Geräuschkulisse vor dem Haus klingt wie an einem Sonntag, und mit den Kindern (und evtl. dem Partner) zu Hause wirkt jeder Tag zunächst wie ein Wochenende oder sogar Ferien. Die Versuchung ist da, öfters mal auszuschlafen, die Mittagspause weit auszudehnen oder abends länger aufzubleiben. Psychologen aber raten dringend dazu, die übliche Struktur beizubehalten, sich den Tag einzuteilen in „Arbeit“, „Freizeit“ und was sonst noch ansteht und auch die Schlafgewohnheiten nicht grundlegend zu ändern während der Woche.
Daher:
Es ist hilfreich für den biologischen Rhythmus, immer ungefähr zur gleichen Zeit aufzustehen. Vielleicht gibt es eine übliche Morgenroutine (z.B. Badezimmer, Wasser trinken, Stretchen, Meditation, dann Frühstück), dann sollte diese unbedingt beibehalten werden. Ein visueller Tages- oder Wochenplan kann der ganzen Familie zu helfen, dem Tag die Struktur zu geben, die normalerweise von außen vorgegeben ist mit Schulzeiten, Busfahrplänen und Kernarbeitszeit. Es wird Tage geben, da weicht man davon ab, und das ist in Ordnung – so lange es die Ausnahme bleibt. Auch wenn die Kinder es nicht gerne hören: heute ist ein Wochentag und da ist Schule, evtl. auch mit Sportunterricht. Ein äußerer Rahmen ist besonders wichtig in Zeiten, in denen die üblichen und bekannten Rahmen von Gesellschaft und Alltag wegfallen.
Sich auf das fokussieren, was man unter Kontrolle hat
Wenn fast alles, was gewohnt und daher stützend war, plötzlich wegbricht (offene Grenzen, mit Freunden den Geburtstag feiern, bei Bedarf zum Friseur gehen, das wöchentliche Fußballtraining, volle Regale im Supermarkt, etc.), entsteht schnell ein Gefühl von Bodenlosigkeit. Gegenwärtig treffen uns Veränderungen der Art und Weise, wie wir zu leben gewohnt sind, dazu die Unsichtbarkeit der Gefahr auf vielen Ebenen: psychologisch, emotional, finanziell, sozial – alles wird gerade auf den Kopf gestellt, und das ruft viele Gefühle hervor. Selten war das universelle Gesetz von „Die einzige Konstante im Leben ist, dass sich alles immer verändert.“ so greifbar und spürbar. Unsicherheit, Ohnmacht und Hilflosigkeit sind die Folge und viele Gedanken über das wie, wie lange, wer, warum, wozu, was dann? All das haben wir nicht unter Kontrolle.
Daher:
Sich auf das fokussieren, was wir unter Kontrolle haben: Was wir tun, hier und jetzt. Gedanken und Emotionen kommen einfach. Aber wir haben unter Kontrolle, was wir damit machen. Innerlich bedeutet das: innehalten und bemerken, was da für ein Sturm von Sorgen oder Ängsten wütet. Dann ist es die Aufgabe, den Anker zu werfen: atmen, den Körper spüren, hören, innehalten, wahrnehmen, annehmen. Vlg. hierzu die Technik mit ACE. Äußerlich bedeutet das: Was mache ich jetzt? Was ist jetzt hilfreich? Sei es mit Geduld und Verständnis den Kindern gegenüber, sei es mit „haushaltsüblichen“ Mengen beim Einkauf, sei es mit konkreten Diensten für die Mitmenschen – ob freiwillig oder aus Berufung. Was jeder Einzelne macht, hat Auswirkungen auf alle Menschen um ihn herum. Wir haben oft viel mehr Kontrolle über das eigene Leben, als uns bewusst ist. Und keine Handlung ist zu klein, keine zu unwichtig. Wie wir im Leben auftreten, hat eine Wirkung, auf Natur, Umwelt und Menschen.
Wachsamer Türsteher sein für das, was hineindrängt
Schon vor der Pandemie haben die Smartphones dafür gesorgt, dass die meisten Menschen non-stop verfügbar und informiert waren. In gewissen Kreisen ist schon die Rede von einem „Text-Nacken“, der nicht besonders förderlich ist für den Rücken oder die allgemeine Gesundheit. Die endlosen Nachrichten-Feeds halten uns online, ständig pingt das Handy, und in der Freizeit sitzen wir (und auch schon die Kinder) vor dem Fernseher, dem PC oder in virtuellen Räumen. Die Sinnestore sind weit offen und lassen ohne Filter alles durch. Oft geben wir uns keine Zeit, um das Aufgenommene zu verarbeiten und einzuordnen. Die Informationsflut macht genau das – sie überflutet uns oft, ob mit wirklichen Nachrichten, fake news oder Ablenkung in den sozialen Medien. Digitale Medien sind nicht per se schlecht, sondern es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Es versteht sich wahrscheinlich von selbst, dass es für Seele und Geist nicht hilfreich ist, wenn man nun ständig aufnimmt, was da in der Welt geschieht. Wir Menschen sind kein Fass ohne Boden, sondern eher wie ein Schwamm. Irgendwann ist er vollgesogen, und wenn wir dann nicht mit dem Inhalt umgehen und ihn verarbeiten, wird es uns unkontrolliert überfluten.
Daher:
Es kann hilfreich sein, sich nicht ständig von neuen Informationen füttern zu lassen. Vielleicht kann man das Aufrufen von Nachrichten auf feste Zeiten legen, z.B. 10 Uhr morgens und 19 Uhr abends – wobei einmal am Tag auch ausreichend sein sollte (und am besten nicht direkt vor dem Schlafen). Sind Push-Nachrichten auf dem Handy wirklich notwendig? Es geht darum festzustellen, wann man sich stark und geerdet genug fühlt, um Neues aufzunehmen. Selbstfürsorge besteht darin, selbst zu bestimmen, was und wie viel man hineinlässt. Es geht darum, Türsteher zu sein und bewusst zu kontrollieren, mit was ich mich jetzt befassen will und kann. Nur weil es verfügbar ist (Nachrichten, Problemgespräche, wertende oder polarisierende Kommentare in den sozialen Medien), muss man es nicht direkt und komplett konsumieren. P.S. Es ist nicht hilfreich, morgens nach dem Aufstehen direkt die Tore weit für die Welt zu öffnen, sondern erst einmal in der eigenen Welt und dem eigenen Körper anzukommen.
Das Leben leben, so wie es jetzt gerade ist, mit Selbstverantwortung und Kontrolle über den eigenen Beitrag, und mit Wachheit und Mitgefühl der Welt begegnen – nichts anderes bedeutet es, ein Mensch zu sein.
Dieser Artikel wurde von unserer Referentin Berenice Boxler zur Verfügung gestellt.
Vielen Dank für diese wertvolle Unterstützung!