Direkt zum Inhalt
Loch Kelly: Offenherziges Gewahrsein
Loch Kelly
Die Begegnung von Geist und Herz, Weisheit und Liebe, Kontemplation und Handeln

An einem frischen Herbsttag in New York City war ich zu einem Termin unterwegs. Als ich am Eingang der nächstgelegenen U-Bahn-Station an der Ecke 116. Straße und Broadway ankam, hörte ich unten den Zug in den Bahnhof einfahren. Ich griff nach meiner MetroCard, ging durch das Drehkreuz, eilte nach unten und erreichte den Bahnsteig gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich die Türen schlossen und der Zug den Bahnhof verließ. 

Ich stand da, sah auf meine Uhr und war frustriert, weil ich wahrscheinlich zu spät zum Termin kommen würde. Der Bahnsteig war leer. Als ich die Bahnsteigkante verließ, spürte ich Enttäuschung als Kontraktion in meinem Bauch aufsteigen. Dann merkte ich, dass ich angefangen hatte, mir Sorgen zu machen, und diese Gedanken brachten mich nach oben in meinen Kopf, wo ich anfing, mir Szenarien des ungünstigsten Falls auszudenken. Dann wurde mir bewusst: »Oh, ich bin in meinen Gedanken gefangen, aber es gibt eine andere Art zu sein.« Mir wurde klar, dass meine Situation eine Gelegenheit bot, in verkörpertes waches Gewahrsein zu wechseln. 

 

Die Verschiebung vom Kopf zum Herzen

Als ich aus der Ego-Identifikation in verkörpertes waches Gewahrsein wechselte, fing ich an, mich sicher, geerdet, offen und freudig lebendig zu fühlen. Meine Emotionen und Gedanken über das Verpassen des Zuges sowie meine Verspätung waren ganz von selbst in das köstliche, ungeteilte Gefühl und die Klarheit eingeschlossen, von wachem Gewahrsein aus zu sehen. Mir war klar, dass waches Gewahrsein nicht etwas war, was ich hergestellt hatte, sondern eine existierende Dimension der Realität, die immer schon da war. Mit einer kleinen Verschiebung war waches Gewahrsein spontan und unmittelbar für mich verfügbar gewesen, was mein Gefühl von mir und die ganze Situation zum Besseren verändert hatte. 

Warten in einer U-Bahn-Station, eine Aktivität, die ich für langweilig gehalten hatte, war zu einem Mini-Retreat, zur kostbarsten Gelegenheit des Tages geworden. Nach ein paar Minuten war ich so entspannt und offen, dass ich sinnierte: »Das ist toll. Was könnte besser sein als das?« Deshalb erwartete ich nicht, was als nächstes passierte. 

 

Einander von Herz zu Herz zu sehen 

Der Zug fuhr ein, die Türen öffneten sich und ich stieg ein. Ich schaute nach rechts, um einen freien Platz zu suchen, und war verblüfft, als mein Blick den Blicken der paar Leute begegnete, die aufschauten. Es schien, als hätte sich ein Schleier zwischen uns gehoben; unsere Masken waren abgefallen. Ich fühlte mich verletzlich, aber sicher und mit allen und allem verbunden. Es war, als ob ich den Spruch »Unsere Augen sind die Fenster der Seele« wahrhaft verstand – zum ersten Mal. Es war, als sähen die anderen Fahrgäste und ich einander von Herz zu Herz. Diese neue Art zu wissen ist das, was ich jetzt offenherziges Gewahrsein nenne. 

Zwischen den anderen Fahrgästen und mir schien es keine Trennung zu geben. Ich hatte ein tiefes Gefühl sowohl von der Wachheit als auch der Unvollkommenheit in uns allen. Erstaunt schnappte ich bei dieser neuen Art zu sehen und zu sein vor Ehrfurcht nach Luft. Dann fing ich an zu lachen, weil sich dieser Modus des Sehens von offenherzigem Gewahrsein aus in gewisser Weise so einfach und gewöhnlich anfühlte – und es war so eine Erleichterung! 

 

Eine neue Art zu sein, zu wissen und in Beziehung zu sein 

Der Philosoph Jiddu Krishnamurti sagte: »Es gibt keine Intelligenz ohne Mitgefühl.« Offenherziges Gewahrsein ist diese mitfühlende Intelligenz, die in unserer Welt heute so sehr gebraucht wird. Offenherziges Gewahrsein ist jedoch kein fernes Ideal. Es ist eine natürliche Fähigkeit in uns allen, und wir alle sind fähig, offenherziges Gewahrsein zu entdecken und uns mit ihm vertraut zu machen, bis es in unserem Leben zur neuen Normalität wird. Offenherziges Gewahrsein ist die Begegnung von Geist und Herz, Weisheit und Liebe, Kontemplation und Handeln. Es ist eine Verschiebung vom Kopf zum Herzen, von konzeptuellem Denken zu einer neuen Art, von nichtkonzeptuellem Herz-Geist aus zu wissen. Es ist eine andere Art, die Welt und andere Menschen zu sehen und mit ihnen in Beziehung zu sein. Wenn man von offenherzigem Gewahrsein aus operiert, hat man die Fähigkeit zu sehen, wie wir alle gleich sind, und mit Mut zu handeln. 

 

Waches Gewahrsein, das verkörpert ist und sich mit allen und allem verbunden fühlt

Wir wechseln von Wissen, das auf Denken beruht, zu wachem Gewahrsein. Anam Thubten sagt: »Ein offenes Herz kann man nur erfahren, wenn man über den Bereich des intellektuellen Geistes hinausgeht.« Unsere erste Erfahrung von wachem Gewahrsein kann die Erfahrung ausgedehnten Gewahrseins sein, das frei von Denken, aber auch ein distanzierter Beobachter von Emotionen und Sinnesempfindungen ist. 

Dann ist es möglich, zu spüren, dass man in eine verkörperte Präsenz übergeht, die aus dem Inneren unserer Erfahrung statt von außerhalb unserer Erfahrung weiß. Offenherziges Gewahrsein ist waches Gewahrsein, das verkörpert ist und sich außerdem mit allen und allem verbunden fühlt. Es ist nicht möglich, offenherziges Gewahrsein von einem Selbstgefühl aus wahrzunehmen, das sich mit dem Ego identifiziert. Von dort aus, wo wir beginnen, kann man offenherziges Gewahrsein nicht einfach machen. Es ist keine innere Haltung, kein emotionales Gefühl und kein positives Denken. Es ist eine natürliche Fähigkeit in jedem von uns, die verlangt, dass wir die Ebenen des Geistes wechseln. 

 

Erwachte Weisheit 

Wenn man von offenherzigem Gewahrsein aus handelt, hört man nicht mehr auf den inneren Erzähler und auf das beliebige Geplapper unserer automatischen Gedanken. Diese Stimmen werden zu wenig mehr als einem Hintergrundgeräusch wie Kinder, die hinter dem Haus spielen. Waches Gewahrsein hat sich in den Vordergrund des Bewusstseins bewegt, wo es ruhig ist. Man ist nicht länger von den Anstrengungen erschöpft, seine Gedanken zu organisieren. Man fühlt sich verkörpert, erfrischt, aufmerksam und ausgestattet mit dem Potential, zu wissen, was zu wissen ist, wenn man es wissen muss. Man wendet sich nicht länger an das Denken, um etwas zu wissen. Wenn man durch offenherziges Gewahrsein erlebt und wahrnimmt, lässt man mehr von der Welt in sich hinein, und, was noch erstaunlicher ist, man hört auf, Gedanken und Emotionen auf andere zu projizieren. 

Von offenherzigem Gewahrsein aus scheint die Welt von innen erleuchtet zu sein, und was einmal als das »andere« erschien, ist tatsächlich verbunden. Offenherziges Gewahrsein kann einen Wechsel in eine neue Art zu sehen bewirken. Die Augen sind dann nicht nur mit dem Gehirn, sondern durch den Herz-Geist mit dem Seinsgrund verbunden. Die auf dem Ego beruhende Identität schaut nicht mehr aus den Augen. Vielmehr ist Blicken von offenherzigem Gewahrsein aus so, als schaute man direkt durch die Augen des erwachten Herzens ohne die Gedanken, Glaubensvorstellungen und Projektionen des Bewusstseins, die die Erfahrung interpretieren. Es bestehen keine Ängste oder Sorgen über das, was die andere Person denken könnte; es besteht ein Vertrauen, dass man wissen wird, wie man reagieren sollte – mit einer natürlichen, intuitiven Achtsamkeit des Herzens. 

 

In den Herz-Geist wechseln

Während des Übergangs von gewöhnlichem Bewusstsein zu offenherzigem Gewahrsein braucht man Vertrauen und Geduld. Wenn wir anfangen, diesen Wechsel vorzunehmen, stehen uns unser Denken und die Ego-Funktionen noch nicht vollständig zur Verfügung. Daher kann es sich so anfühlen, als vollzöge sich der Wechsel zu langsam, aber es ist lebenswichtig, nicht aufzugeben. Es gibt eine Phase, während der man auf die Reaktion wartet, ohne auf das Denken zu schauen – auch wenn man das Gefühl hat, dass keine Reaktion kommen wird. Das Ego-Bewusstsein sagt: »Beeil dich!«, oder: »Schau, ich habe dir gesagt, ohne mich als Führer wirst du versacken.« Aber die neue Verschaltung wird zu einer anderen Art des Sprechens von offenherzigem Gewahrsein aus führen. 

Jemand hat dies so beschrieben: »Sprechen wird wie Atmen. Es ist leicht und natürlich und fließt einfach, ohne planen zu müssen, was man sagen wird.« 

Erstaunlicherweise muss man nicht versuchen, diese Erfahrung von offenherzigem Gewahrsein herzustellen. Man muss einfach lernen, aus Denken, das sich mit dem Ego identifiziert, in den Herz-Geist zu wechseln; mit der Zeit wird man immer vertrauter damit, auf diese Weise zu sein. Leben von offenherzigem Gewahrsein aus vermittelt einem ein Gefühl, als wäre man wieder nach Hause gekommen, als wäre man wieder ganz und als würde man nie wieder allein sein. 


Dieser Artikel stammt aus dem Buch Reise ins Erwachen von Loch Kelly

 

Angebote

Neue Perspektiven für Therapie, Coaching und Gesellschaft

Unbegrenzter Zugang zum Kongress mit dem Premiumpaket!